UNTERWEGS FÜR DIE UKRAINE.

Berlin, 23.03.2022

UNTERWEGS FÜR DIE UKRAINE

Betroffenheit und Unsicherheit: Aufgrund vieler Freunde und Bekannte aus der ukrainischen Community in Berlin war für uns die zunächst angespannte und später tatsächliche Kriegssituation schon im Februar sehr präsent. Freunde von Patrick Jacobi, Geschäftsführer bei Headmatch, haben bereits in der zweiten Kriegswoche einen Hilfskonvoi an die ukrainische Grenze organisiert und auf dem Rückweg Flüchtende nach Deutschland befördert. Aufgrund der bedrückenden Erfahrungen unserer Freunde vor Ort haben wir als Headmatch den Entschluss gefasst, neben den Geldspenden selbst aktiv zu werden und einen Hilfskonvoi an die ukrainische Grenze zu organisieren. Nur mit Hilfe von über 50 Mitarbeiter*innen konnten wir innerhalb von nur 3 Tagen sämtliche Hilfsgüter kaufen, Sachspenden und Geld sammeln und die Autos für den Konvoi organisieren.

 

DONNERSTAG 10. MÄRZ, 9 Uhr.
Zu siebt legten wir innerhalb von elf Stunden mit drei Sprintern ca. 900 Kilometer nach Rzeszów zurück. Die Emotionen bewegten sich zwischen Motivation, Sorge und Aufregung, besonders, als unser Konvoi gegen 20 Uhr am Hotel nahe der Krisenregion eintraf.

FREITAG 11. MÄRZ, 8 Uhr.
Nachdem wir uns um 8 Uhr morgens auf den Weg gemacht haben, trafen wir gegen halb 10 Uhr auf dem Parkplatz einer kleinen Shopping Mall in Przemy?l ein. Gut organisiert durch das polnische Militär und weitere Freiwillige konnte ein Teil unserer Gruppe schon die Spendengüter wie Hygiene- und Lebensmittel, Medikamente, Schlafsäcke und Decken übergeben.

In der Mall selbst waren Flüchtende nach Wunsch-Destination in verschiedene Räume aufgeteilt. Unentbehrlich war hier unsere Dolmetscherin, welche nicht nur als Übersetzerin fungierte, sondern mit ihrer empathischen Art sanft auf Frauen und Kinder einging und dabei helfen konnte, passende Mitfahrende den Autos zuzuordnen und aufkommende Fragen zu beantworten.

Insgesamt konnten wir 20 Flüchtende sicher nach Deutschland befördern. Um 22 Uhr kam unser Konvoi beim Erstaufnahme-Zentrum in Cottbus an, in welchem Frauen und Kinder ohne Kontakte in Westeuropa versorgt werden konnten. Flüchtende mit Westanbindung und/ oder bereits bestehenden Kontakten nahmen wir mit nach Berlin.

Im Nachhinein sind wir sehr erleichtert über den reibungslosen Ablauf der Hilfsaktion. Uns lag besonders das Wohl der Mitreisenden am Herzen. Da vornehmlich Frauen mit Kindern befördert wurden, haben wir besonders darauf geachtet, in jedem Auto mindestens eine  weibliche Helferin dabei zu haben. Außerdem war uns wichtig, dass alle Fahrer*innen zu jedem Zeitpunkt ausgeruht und versorgt sind, um sicher an den jeweiligen Destinationen anzukommen.

Wir bedanken uns bei allen Unterstützer*innen und Helfer*innen, ohne deren Hilfe diese Aktion nicht möglich gewesen wäre.

Hinweise, die hilfreich bei der Organisation und Umsetzung waren, haben wir zum Download bereitgestellt.

 

 

Interview mit Geschäftsführer Julien Walter

 

Frage: Wie würdest du die Stimmung auf dem Hinweg beschreiben?

 

J.W.: Die Stimmung war zwiegespalten: Natürlich ist da eine gewisse Aufregung, Sorge und teilweise Angst, gerade auch in Anbetracht der Erzählungen, die man vorab hört. Andererseits ist auch positive Energie zu spüren, man ist motiviert, etwas zu tun und im Team aktiv zu werden. So pauschal lässt sich das aber nicht beantworten, am Ende hängt es doch vom jeweiligen Charakter der Personen ab, welche Emotion da überwiegt.

 

Frage: Am 11. März seid ihr bei der Tesco Shopping Mall in Premysl angekommen. Dort haben Flüchtende eine Übergangsunterkunft und warten auf eine Mitfahrgelegenheit. Bei dem Parkplatz vor der Mall werden Sachspenden abgegeben. Kannst du uns die Situation vor Ort, zunächst auf dem Parkplatz, beschreiben?

 

J.W.: Auf dem Parkplatz waren sehr viele Fahrer aus Westeuropa, aus Schweden, Frankreich und Deutschland, viele NGO’s und natürlich viele Angehörige des Militärs und der Polizei. Es gab sehr viele Zelte, in denen die Spenden sortiert wurden, Altkleider-Berge und Suppen-Ausgaben.

 

Frage: Wie würdest du die Stimmung auf dem Parkplatz beschreiben?

 

J.W.: Es war sehr windig und wirklich kalt, um die -10 Grad. Trotzdem herrschte unter den Freiwilligen und Helfer*innen vor Ort eine sehr solidarische, positive Stimmung. Vorher hatten wir viel vom grimmigen Militär vor Ort gehört, den Eindruck konnten wir gar nicht bestätigen, alle waren gut organisiert und wirkten freundlich.

 

Frage: Wie würdest du den Ablauf beim Abholen der Flüchtenden beschreiben?

 

J.W.: Tatsächlich etwas missverständlich. Es war uns zum Beispiel nicht bewusst, dass sich alle Menschen registrieren lassen müssen, die den Parkplatz anschließend wieder verlassen werden, nicht nur die jeweiligen Fahrer. Die Wartezeit und die Schlangen vor der Mall sind relativ lang, weil für den Registrierungsablauf leider nur sehr wenig Personal vorhanden war. Während dieser Wartezeit wurden wir auch häufig angesprochen und aufgefordert, bestimmte Personen mitzunehmen.

In der Mall selbst sind zwischen 2.000 und 3.000 Flüchtende untergekommen. Die einstigen Geschäfte sind jetzt mit Nummern versehene Räume. Anfangs war auch nicht klar, dass die Nummern einen Zweck haben, beispielsweise stand die Nummer 10 für die Wunschdestination Deutschland. So konnten wir Flüchtende mit dem selben Ziel finden.

 

Frage: Wie sah die Verfassung der Flüchtenden aus und wie lief die Kommunikation mit ihnen ab?

 

J.W.: Das lässt sich nicht durch die Bank weg beantworten, jedoch waren viele der Frauen und Kinder sichtlich verunsichert und verängstigt. Wir sind unserer Übersetzerin hier besonders dankbar, die nicht nur die Kommunikation übernehmen konnte, sondern mit ihrer einfühlsamen Art auch Ängste nehmen und Fragen beantworten konnte und so die richtigen Passagiere für unseren Konvoi gefunden hat.

 

Es hat sich im Rückblick auch als sehr gut herausgestellt, dass wir so viele Frauen unter den Freiwilligen hatten, die in den verschiedenen Autos unseres Konvois saßen. Das Vertrauen der flüchtenden Frauen und Kinder ist in Männer gerade nachvollziehbar nicht besonders groß, man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig hier ist, dass sich die flüchtenden Frauen und Kinder wohl fühlen.

 

Frage: Julien, was wird dir am meisten in Erinnerung bleiben?

 

J.W.: Das sind viele Dinge. Unter den Flüchtenden war ein kleines Mädchen, die ein absoluter Sonnenschein war und in all dem Chaos durch ihre Art so viel Positivität verbreitet hat. Gleichzeitig hängt mir persönlich eine Situation nach, die ich der Registrierungsschlange erlebt habe. Ein junger Flüchtling aus Tadschikistan hatte mich gebeten ihn mitzunehmen, aber ich habe ihm mitgeteilt, dass wir uns in erster Linie auf Frauen und Kinder konzentrieren, hatte ihn aber darauf hingewiesen, dass er doch alternativ kostenfrei mit der Bahn nach Westeuropa gelangen kann, auch wenn das z.T. sehr lange dauert und die Züge überfüllt sind. Was ich nicht wusste, diese Regelung gilt nur für Menschen mit einem ukrainischen Pass. Er selbst saß fest ohne Geld und ohne Perspektive. Letztendlich hatte ich ihm die Mitfahrt angeboten, aber er meinte, dass er nur mit seiner Familie fahren würde, in Summe 16 Personen, was ich dann ablehnen musste. Im Nachgang hatte ich mir überlegt ihm zumindest Geld für die Zugfahrt zu geben, konnte ihn aber in dieser riesigen Mall nicht mehr finden, das war echt niederschmetternd. Generell muss man sagen, dass man bei dem ganzen Leid um die Ukraine, schnell vergisst, dass es viele Flüchtlinge aus der Ukraine gibt, die selbst nicht Ukrainer sind und es deshalb sogar noch schwerer haben aus dem Land zu kommen und auch zum Teil diskriminiert werden.

 

Frage: Hat diese Erfahrung etwas mit euch gemacht?

 

J.W.: Wir haben bei den Fahrer*innen auf eine gewisse Seniorität und Lebenserfahrung geachtet, wohlwissend, dass wir Dinge und Situationen erleben könnten, die man im Nachgang gut verarbeiten können muss. Trotzdem war, denke ich, keiner darauf gefasst, wie emotional das einen im Nachhinein noch beschäftigt. Wir sind aber alles in allem sehr froh über den eigentlich reibungslosen Ablauf und dass wir Menschen helfen, konnten.

 

Hinweise zur Organisation und Umsetzung: Download